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Foto:  Annemie Augustijns © Opera Ballet Vlaanderen
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In Wort- und Klanggewittern – „Les Bienveillantes“ von Hèctor Parra in Antwerpen uraufgeführt

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Jonathan Littells kontrovers diskutierter Roman „Die Wohlgesinnten“ wurde jetzt auch die Vorlage für eine Oper. Die Uraufführung erlebte „Les Bienveillantes“ von Hèctor Parra zum Libretto von Händl Klaus an der Flämischen Oper in Antwerpen.

Das muss man sich erst mal trauen: eine Oper ausgerechnet zu Jonathan Littells Roman „Die Wohlgesinnten“ in Auftrag zu geben! 2006 in Frankreich erschienen, gab es schon Bühnenversionen. 2010 ist u.a. Armin Petras im Maxim Gorki Theater mehr oder weniger damit gescheitert. Der opernversierte Österreicher Händl Klaus (*1969) hat aus dem Roman jetzt ein Libretto für den katalanischen Komponisten Hèctor Parra (*1976) destilliert. Landsmann Calixto Bieito hat die Uraufführung (als Koproduktion mit dem Staatstheater Nürnberg und dem Teatro Real Madrid) inszeniert. Für den in der nächsten Spielzeit nach Genf wechselnden Intendanten der Flämischen Oper Aviel Cahn ein spektakuläres Ausrufezeichen hinter eine erfolgreiches Intendantenjahrzehnt. 

Bei diesem Stoff ist Bieito noch der harmlosere Teil der Veranstaltung. Obwohl er sich bei einigen szenischen Ingredienzien für den Alptraum des Grauens an seine Vergangenheit als einst gefürchteter Skandalregisseur erinnert hat.

Drahtseilakt über Abgründen

Hier ist schon die Vorlage ein purer Drahtseilakt über Abgründen. Weil das Buch ein Protokoll des Grauens ist und den systematischen Mord an den Juden und das Stalingrad-Trauma in einer geradezu voyeuristischen, manchmal auch pornographischen Nahaufnahme abzubilden versucht. Vor allem aber, weil Littell dabei konsequent die Perspektive eines Täters einnimmt. 

Es sind Erinnerungen der erfundenen Figur Dr. Max Aue als Rückschau eines ungeschoren davongekommenen, tief verstrickten Täters. Littell führt diesen Ich-Erzähler als gebildeten, karrierebewussten und „überzeugten“ Nazi ein, der allenfalls über die mangelnde Effizienz des Systems ins Grübeln kommt, nicht aber über dessen Prämissen. Er bürdet ihm darüber hinaus die Biographie eines Homosexuellen auf, der von der inzestuösen Obsession zu seiner Schwester nicht loskommt, obendrein mit ihr Zwillinge zeugt und dann auch noch, wie Orest, seine Mutter und deren zweiten Mann erschlägt.

Händl Klaus behält die musikalisch inspirierte Struktur des Romans im Libretto bei, überschreibt die sieben Bilder mit Toccata, Alemande, Courante, Sarabande, Menuett, Air und Gigue. Was sich unter diesen Überschriften in dem nur leicht veränderten, weißen Raum, den Rebecca Ringst nur mit einem Tisch, Neonröhren und Türen versehen hat, abspielt, führt u.a. 1941 von Berlin in die Ukraine, nach Stalingrad und dann zum Mord an den Eltern nach Antibes. Schließlich nach Auschwitz und über West-Pommern wieder nach Berlin. Geradewegs in den Bunker unter der Reichskanzlei, wo der Antiheld in einer grotesk surrealen (a capella) Szene dem „Führer“ die Nase abbeißt.  

Die intellektuelle und emotionale Falle, die schon der Autor Littell und auch die Oper dem wissenden Lesern stellen, liegt in der scheinbaren Nachvollziehbarkeit des Handelns unter gegebenen Bedingungen, in dem latent mitschwingenden „Wie hättet Ihr Euch verhalten?“ oder in der dunklen Faszination des Grauens. Deutlich wird das, wenn mitten im Morden ein kleines Mädchen Max an der Hand fasst und nach der Mutter fragt, weil sie die nicht mehr sehen kann. Max singt daraufhin: „ich ging mit ihm und sagte dem nächsten soldaten / seien sie lieb zu dem Kind / er trug es wirklich auf dem arm / in die grube / zärtlich.“ Im Furor des aufgewühlten, meist dezidiert katastrophisch klingenden Orchesters und im Crescendo der Gewalt drohen diese Klippen jedoch überspült zu werden, obwohl sie für das Problematische, aber auch Herausfordernde der Erzählperspektive in Roman, Libretto und Oper stehen.  

Meist aber entgehen Händl Klaus, Parra und auch der Regisseur weitgehend der Gefahr, in den Abgrund eines möglichen relativierenden Missverstehens zu stürzen. Dafür ist der grandiose Tenor Peter Tantisits in der zentralen, dauerpräsenten Partie des Max Aue viel zu sehr in seine eigenen obsessiven Abgründe verstrickt. Auch ist seine Schwester Una (so virtuos im ariosen Solo wie charismatisch in der Darstellung: Rachel Harnisch) die einzige im Stück, die dezidiert nicht von der Nazi-Ideologie infiziert ist. 

Abstand zu plattem Schocknaturalismus bleibt gewahrt

Bieito gelingt es, trotzt drastischer Zutaten (schon im Roman wird ja ausführlich über Körperausscheidungen geschrieben) von (Theater-)Kot und -Blut, dennoch einen Abstand zu plattem Schocknaturalismus zu wahren. Es gibt weder SS-Uniformen noch Waffen. Wenn geschossen wird, dann reicht die Nachbildung einer Pistole mit der Hand. Auch das Beil, mit dem im Elternhaus zugeschlagen wird, gibt es hier nur als metaphorisches Requisit. Zwei Mal setzt Bieito Nacktheit als Stilmittel ein. Der alte Mann, der langsam nach vorn schreitet und dann eine gefühlte Ewigkeit an der Rampe liegen bleibt. Vielleicht ein Zeichen dafür, dass man sich an schlichtweg alles zu gewöhnen vermag? Und eine junge Frau, die auf einen Tisch steigt, mit einem Arm in einer Schlinge über ihrem Kopf dasteht und dann, nach und nach von Männern und Frauen in ganz normalem Passanten-Zivil betatscht oder geküsst, also missbraucht wird. 

Bieito hat hier längst zu einem Maß gefunden, Bilder zu schaffen, die es dem Zuschauer erlauben, das Interieur der Grausamkeiten im Kopf beizusteuern. Was ja die eigentliche Kunst ist, die hier freilich von einer eindrucksvollen Musik getragen und befördert wird. 

Parra setzt voll auf das Orchester und packt von Anfang an mit einem überfallartigen Einbruch unheilsschwangerer Klangattacken in die Sprachlosigkeit. Mit emotionaler Wucht setzt die Musik ein, wenn sich Aue, im weißen Hemd und klinisch sauber wie in einem Verhörraum mit der trotzigen Haltung eines „Was wollt Ihr eigentlich? Ihr habt doch keine Ahnung!“ einführt. Dass dann die ersten toten in der Ukraine, von denen die Rede ist, als Chor der noch Lebenden auftritt, steht für die Balance der Mittel, die Bieito über weite Strecken überzeugend wahrt.

Dennoch bleiben Einwände. Einer betrifft die mögliche Überforderung durch die pure Länge des Abends bei der Wucht der Musik und Intensität der Sprache. Die andere eine gewisses Gefahr, dass die persönliche Disposition Aues mit seiner Homosexualität, der inzestuösen Beziehung zur Schwester, dem Elternmord, also das kleine Grauen zum Motor des Großen avanciert. Abgesehen davon, dürften die Zuschauer, die den Roman kennen, in einer ungleich günstigeren Ausgangslage bei der Aufnahme dieser Opernnovität sein.

Musikalisch setzt Parra auf eine Haltung stets lauernder Überwältigung mit der Macht des Orchesters, in die bewusst musikalische Anspielungen und elektronische Klangversatzstücke eingewoben sind. Sie lässt es aber zu, dass die Sprache ihre subversive Wirkung entfaltet. Der Dirigent Peter Rundel spielt seine Vertrautheit mit der musikalischen Sprache von Hèctor Parra am Pult des Symphonischen Orchesters der Flämischen Oper voll aus (er hatte schon Parra's „Wilde“ bei den Schwetzinger Festspielen geleitet). Aus dem mit vollem Stimm- und Körpereinsatz agierenden Ensemble ragen neben Peter Tantsits und Rachel Harnisch vor allem Günther Papendell als Thomas und Natascha Petrinsky mit geradezu hysterischem Furor als Max’ Mutter heraus.

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